Karlsbader Mitteilungsblatt

ARCHIV: Redaktionelle Berichte

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Vor 70 Jahren

30.03.2015 – 07.04.2015

Die Front rollt über die Karlsbader Orte

Eine sonderbare Nacht, diese Nacht zum 8. April. Auch zwei Soldaten waren im Sonne-Keller. Sie sagten: „Wir machen diesen Unfug nicht mehr weiter mit. Nur davonlaufen und man weiß überhaupt nicht warum das alles. Wir wollen morgen  in Gefangenschaft gehen“. „Morgen hat meine Tochter Weißen Sonntag“, sagt der andere, „ und ich gehe – wenn  alles gut geht – in Gefangenschaft“. Zuvor hatten auch zwei SS-Leute Schutz im Keller gesucht. Sie wurden von den beiden Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg brüsk aufgefordert zu gehen, damit die Leute im Keller nicht gefährdet werden. Und sie gingen Gott-sei-Dank. Die beiden Veteranen führten jetzt das Kommando im Keller, als der Artillerie-Beschuss immer stärker wurde. Es pfiff über unsere Köpfe und immer wieder Detonationen. Dazwischen war auch Maschinengewehrfeuer zu hören – sehr nah sogar. Die Veteranen meinten, daß es jetzt Zeit wäre, die Tür zu öffnen. Die Sonnenwirtin wurde aufgefordert ein großes Leintuch zu holen. Diese weiße Fahne wurde dann über das Kellertreppengeländer gehängt und die große Kellertür blieb offen. Es pfiff und krachte immer mehr. Und plötzlich war die Glocke zu hören. Sie wurde von einer Granate getroffen und gab recht schaurig und sehr laut ihre letzten Töne von sich. Es war die einzige Glocke, die noch auf dem Kirchturm hing.

Plötzlich waren Panzer zu hören – sehr nah – und auch Stimmen. „Sind Franzosen“, sagte ein Pole, der bei uns im Keller war.  Und wir hatten auf Amerikaner gewartet und zwar voller Angst vor den Schwarzen. Diese Angst war unbegründet, denn wie später zu erfahren war, waren das die feinsten Truppen der Eroberer von damals.

Von den Keller-Fenstern wurden plötzlich die Holzverschläge weggerissen und zu zwei Fenster wurden Maschinengewehre reingeschoben. Die Angst vor diesen Waffen läßt sich nicht erklären. Beide Gewehrläufe zielten direkt auf die Menschen im Keller. Alles schrie. Der Pole rief: „Polski Kamerad!“ Nach kurzer Zeit, die uns wie eine Ewigkeit erschien, verschwanden die Maschinengewehre wieder aus den Fensteröffnungen. Jetzt kam der erste französische Soldat in den Keller. Mit vorgehaltenem Gewehr sicherte er sich selbst. Ihm war dabei die Angst im Gesicht geschrieben. Auf sein Zeichen kamen seine Kameraden hinterher. Sie schubsten die beiden deutschen Soldaten, die zuvor ihre Waffen oben abgelegt hatten, ziemlich grob die Kellertreppe hinauf. Der Pole ging gleich mit und begrüßte freudig die französischen Truppen. Seine Anwesenheit und seine spärlichen Französisch-Kenntnisse waren auch für die Menschen im Keller von Nutzen. Die französische Kampftruppe war sehr in Ordnung. Doch bald kam die Nachhut, und von ihnen waren viele betrunken – sehr stark sogar. Es gab Kummer.

Gegen 12 Uhr kam der Pole und sagte, daß wir jetzt raus könnten, es sei ruhig. Beim Blick aus dem Seitenausgang zur Weinbrennerstraße hin, sah die Straße verändert aus. Unterhalb des Pfarrhauses standen keine Häuser mehr. Dort rauchten nur noch die Trümmerhaufen. Und auch das Haus gegenüber war nur och ein rauchender Trümmerhaufen. Das Haus Würth blieb verschont. Das Haus Becker neben der Kirche wurde gerade von französischen Soldaten in Beschlag genommen. Sie marschierten dort ein mit Hühner auf dem Rücken hängen oder auch kleine Fäßchen und Kartons. Verpflegung eben.

Den eigenen Hof konnten wir dann nicht gleich betreten. Vorne stand ein Franzose und schoß unsere Hühner ab. Ein Offizier kam aus der Haustür und brüllte ihn an, worauf er dann weiterging. Wir gingen zur Haustür und wollten eintreten, da kam ein ordentlich strenges Kommando, wir sollen draußen bleiben, hier seien viele Verwundete.  Erst als die Mutter dem aufgeregten französen Offizier fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“ beruhigte er sich und bat sie, Ihren deutschen Kameraden Tee zu kochen. Dieses Teekochen dauerte dann bis zum Abend , und auch die französischen Verwundeten tranken dieses Getränk aus Langensteinbacher Gewächsen und Wasser. 

Gleich als wir aus dem Keller kamen, rochen wir Rauch und sahen dann die lodernden Flammen aus dem Sägewerk. Eine Woche später brannte es immer noch. Am Mittag schaffte ich es trotz Verbot  an dem Wachtposten an der Haustür hinaus in den Hof. Plötzlich fing es wieder an zu krachen. Das waren die in Ittersbach stationierte deutschen Geschütze. Sie schossen 13 Häuser und auch die dazugehörenden Ställe und Scheunen zuerst in Brand und dann schickten sie Sprenggranaten hinterher. Der vierzehnjähriger Junge Wohlschlögel war gleich tot und auch die Nachbarin Wettach. Sein Vater wurde zu dem Feldlazarett bei uns gebracht. Er starb bald danach. Auch Christoph Wettach wurde schwer verletzt und wurde deshalb auch in unser Haus gebracht. Er lebte am Abend noch und wurde in der Nacht von der französischen Sanitätskolonne ins Krankenhaus nach Rüppurr verlegt, wo er wenige Tage später verstarb. Die Granaten aus Ittersbach sollten offenbar die 30 Panzer treffen – es waren amerikanische Sherman-Panzer – die in der Hauptstraße gerade eine Rast eingelegt hatten. Doch den Panzern und ihrer französischen Besatzung geschah nichts, weil sie nicht getroffen wurden.  An dem Geschütz stand ein gerade tags zuvor 17 Jahre alt gewordener Junge. Er erhielt über Funk die Anweisung in welche Richtung er zu schießen habe, erzählte er nach der 50 Jahr-Gedenkfeier im Heimatmuseum  und war sehr erschüttert, als er erfuhr, welches Leid und welcher Schaden er anrichten mußte.